Ist das noch Aufschieberitis oder schon Prokrastination?

Prokrastination – salopp auch gern „Aufschieberitis“ genannt – kennt wohl jeder von uns. Es gibt wohl kaum einen Menschen, der nicht irgendwann mal etwas vor sich hergeschoben hat. Manchmal fehlt es uns an Zeit, Wissen oder (innerer) Ruhe, um die bevorstehende Aufgabe zu erledigen. So lautet zumindest unsere innere Begründung.

Herzliche Grüße vom Verstand, der Dich jetzt gerade glauben machen will, dass es sich hierbei um eine bewusste Entscheidung handelt. Tatsächlich hat das Aufschieben von Aufgaben und/oder Tätigkeiten viel mehr mit dem Unterbewusstsein und Deinem Nervensystem zu tun. Ein erster kleiner Aha-Moment macht sich jetzt vielleicht bemerkbar und die Frage: „Wie kann ich denn dann überhaupt was tun, wenn das Unterbewusstsein seine Finger im Spiel hat?“

 

Prokrastinieren – ein Symptom und keine Krankheit

Wichtig: Prokrastination ist ein bekanntes Problem, aber sie ist keine Diagnose, sondern ein Symptom. Bei Prokrastination handelt es sich um destruktives Aufschieben von Aufgaben. Nicht selten gehen mit dem Aufschieben auch schwerwiegende Konsequenzen einher. Das können verpasste Fristen bei Behördengängen sein, nicht abgeschlossene Projekte (ggf. auch Abschlussprüfungen) oder verschobene Arztbesuche.

Sowohl Therapeuten als auch Ärzte wissen um die teils heftigen Auswirkungen von Prokrastination, verfolgen aus meiner Sicht jedoch in den meisten Fällen einen völlig wirkungslosen Ansatz: Management-Tipps, die den Patienten in der Regel gar nicht helfen und dadurch im Zweifel zu noch mehr Frust sowie Selbstzweifel und in der Folge noch mehr Prokrastination führen, denn das gewünschte Ergebnis wird ja mal wieder „eh nicht“ erreicht.

 

Missverstanden im Umfeld – zusätzliche emotionale Belastung

Dieses Vermeidungsverhalten wird von Menschen, für die „chronisches Aufschieben“ nicht die Regel ist, häufig missverstanden und fälschlicherweise als chaotischer Charakter, Faulheit oder Unzuverlässigkeit interpretiert. Doch Prokrastination ist sehr viel mehr als das: sie kann eine Folge von Bindungs- und Entwicklungstrauma sein; eine Reaktion auf das Erleben und die tiefgreifende Erfahrung von frühen Bindungsverletzungen.

Sobald wir uns dieser Aussage bewusst werden, wird immer klarer, warum Management-Tipps wie „Aufgaben in 5-Min.-Häppchen zerlegen“ nicht zum Ziel führen können. Der innere und unbewusste Konflikt wird dadurch nicht aufgelöst, sondern „drum herum“ gearbeitet. Das wiederum kostet uns noch mehr Kraft, die uns zum Bewältigen der eigentlichen Aufgaben dann doppelt und dreifach fehlt.

 

Prokrastination als Symptom von Trauma

Führende Traumatologen und Traumaforscher sind sich einig: Prokrastination ist oft eine Kompensationsstrategie, die uns davor schützt, unangenehme innere Zustände oder Gefühle zu spüren. Diese Strategie ist sinnvoll, weil sie uns ermöglicht, trotz Belastungen durch unser Leben zu kommen. Sie ist eine Fähigkeit, die wertgeschätzt werden sollte, wenngleich die Folgen natürlich weder gewollt noch hilfreich sind. Es gilt an diesem Punkt zu verstehen, dass unser System zu unserem Wohl agiert, in dem es eine Strategie entwickelt hat, um unangenehme Erfahrungen (wie wir sie ja kennen) und die damit verbundenen Gefühle nicht fühlen zu müssen.

Menschen, die prokrastinieren, vermeiden es durch diese Kompensationsstrategie, sich schlecht zu fühlen. Häufig steckt dahinter die Angst vor dem Scheitern. Sie fühlen sich oft nicht gut genug oder nicht liebenswert, besonders wenn sie in der frühen Kindheit starke Abwertung, Verurteilung oder Beschämung erfahren haben. Je öfter diese Erfahrungen gemacht wurden, desto tiefer verwurzelt und gespeichert sind die unangenehmen Gefühle, die zu einer tiefen Selbstwertwunde führen. Die Strategie, nicht ins Tun zu kommen, bedeutet im Umkehrschluss:

Wir sind sicher, niemand kann uns kritisieren und/oder abwerten!

 

Leben oder Tod – die Sprache des Nervensystems

Wenn wir jedoch ins Tun kommen oder Aufgaben umsetzen, besteht ab sofort die Gefahr, dass die Art & Weise der Durchführung (also WIE wir etwas tun) und vor allem das Ergebnis bewertet, beurteilt und verurteilt werden – von anderen und von uns selbst. Diese Angst ist häufig unterbewusst und manchmal sogar völlig unbewusst. Nicht selten haben wir als Kind von den Eltern gehört, dass wir bestimmte Dinge nicht gut gemacht haben oder besser hätten machen können. Der Antrieb in Schule, Studium nud co., immer möglichst gute Leistungen zu bringen, vervollständigt dieses Bild der Erwartungshaltung an uns bereits in frühen Jahren.

Neben einem ausgeprägten Perfektionismus, also dem Drang und Wunsch, alles möglichst gut und perfekt zu machen, damit uns möglichst niemand kritisiert, entsteht dann die Prokrastination: ich tu einfach nichts, dann kann ich auch nicht dafür beschämt und/oder verurteilt und bewertet werden. Unser Nervensystem hat all diese Erfahrungen abgespeichert und sorgt dafür, dass wir uns dieser Gefahr nicht aussetzen. Es hält uns somit in Sicherheit. Der betroffenen Person ist das nicht bewusst – diese Strategie läuft zu 100% unbewusst ab und auch die Gründe für das eigene Verhalten sind in den meisten Fällen nicht bewusst.

 

Die Angst vor Erfolg und Sicherheit

Manche Menschen haben nicht nur Angst vor dem Scheitern, sondern vor dem Erfolg. Wer es in seinem Leben bislang gewohnt ist, nicht erfolgreich zu sein und nicht wertgeschätzt zu werden für das was er tat oder auch nur ist, dem könnte ein plötzlicher Erfolg zusetzen. Ein Erfolg kann das eigene Selbstbild gehörig ins Wanken bringen und die vertraute Sicherheit zerstören. Frühe Selbstbilder sind tief in uns verankert und bieten uns die Möglichkeit der Identifikation. Identifikation mit etwas bedeutet vor allem eins für uns: Sicherheit. Wenn nun alles plötzlich gut läuft, stellt sich schnell die Frage: „Wer bin ich dann?“

 

„Wer bin ich eigentlich, wenn plötzlich alles gut läuft?“

 

Im ersten Moment mag das wie eine paradoxe Frage klingen, denn eigentlich (rational gesehen) ist es doch für jeden Menschen toll, wenn alles gut läuft. Leider nein. Menschen, die unbewusst daran gewöhnt sind, dass Dinge nicht gut für sie laufen, können häufig nur schwer damit umgehen, wenn dann doch mal etwas gut wird. Sie können es schlecht annehmen und „trauen dem Braten nicht“, da ihr Nervensystem andere Erfahrungen abgespeichert hat. Wenn dann noch Worte der Kritik, des Neids und der Beschämung von außen kommen (die diese Menschen ja bereits kennen und erwarten), dann löst das eine Vielzahl unangenehmer Gefühle aus. Die sichere Strategie: Prokrastination. Nichtstun. Sicher sein. Nicht beschämt und kritisiert werden.

Es ist wichtig, zu verstehen, dass es sich hierbei um unbewusste Verhaltensmuster handelt, die uns wie auf Autopilot agieren lassen. Das Unterbewusstsein steuert uns täglich zu 95% durch den Tag, nur maximal 5% entscheiden wir bewusst. Deshalb sind Menschen, die von Prokrastination geplagt werden, häufig auch emotional sehr müde. Sie haben nicht selten schon die verschiedensten Management-Tipps ausprobiert und sich quer durch Google-Ergebnisse gelesen, nur um dann festzustellen, dass all das nicht wirkt. Die Folge dessen:

 

Ohnmacht, Hilflosigkeit und fehlende Selbstwirksamkeit als Folge von Prokrastination

Menschen, die prokrastinieren, fühlen sich oft ohnmächtig, hilflos und ausgeliefert. Sie haben das Gefühl, dass ihre Handlungen und ihr Verhalten keinen Einfluss auf ihren inneren Zustand und ihre äußere Welt haben. Dies beeinträchtigt ihr Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen oftmals immens. Die traurige Gewohnehit Betroffener ist es, selbst und aus eigener Kraft zu keinem Ergebnis zu kommen. Erfolgsgefühle sind ihnen entweder unbekannt oder mit negativen Erinnerungen verknüpft.

Häufig haben wir als Betroffene auch innere Stimmen von anderen Personen verinnerlicht, die uns abwerten und bestrafen, wenn wir nicht ins Tun kommen.

„War ja klar“
„Hast Du wieder nichts gemacht!?“
„Du bist faul!“
„Wie chaotisch und unzuverlässig – typisch!“
„Dich brauch ich gar nicht fragen, Du schaffst das eh nicht rechtzeitig!“

…und ähnliche Aussagen kennen wir ggf. noch aus der Kindheit und werden nun wie eine innere Stimme, die wir immer wieder in uns hören. Diese inneren Stimmen sind sogenannte Introjekte. Es sind die Stimmen anderer (bei meinen Klientinnen häufig die Stimmen der Eltern), die wir in uns hören und uns damit immer wieder beschämen und bestätigen, dass wir nichts geschafft haben. Diese negativen inneren Dialoge verstärken somit die Prokrastination nur noch mehr und führen zu einer Reinszenierung der alten Erfahrungen. Wir drehen uns im Kreis und finden keine Ausfahrt.

 

Warum prokrastiniere ich, wenn es doch destruktiv ist? Das Nervensystem als zentraler Schlüssel

Selbst destruktives Verhalten kann – so praradox es klingeng mag – Sicherheit geben, weil es uns vertraut ist. Unser Nervensystem will uns schützen und agiert aufgrund alter Erfahrungen. Aus Sicht des Nervensystems ist Prokrastination eine absolut sinnvolle Strategie, denn es schützt uns damit vor Gefahr (das ist sein Job – NUR das!). Es sorgt dafür, dass wir überleben. Für unser Nervensystem gibt es nur zwei Zustände – Leben und Tod. Bedroht etwas unser Überleben, reagiert das Nervensystem sofort und radikal. Was getan werden muss und kann, um das Überleben zu sichern, wird getan – und zwar unbewusst. Alles was sodann als Aktion und Verhalten eines Menschen zu Tage tritt, passiert unbewusst.

So wie jeder Mensch sofort und ohne zu überlegen von der Straße springen würde, wenn ein schnelles Fahrzeug angerast kommt, reagiert auch hier das System unbewusst und ohne bewusste Überlegung und Entscheidung auf die drohende Gefahr. Würden wir erst überlegen, ob wir von der Straße gehen oder nicht… wir wären schon überfahren, bevor wir diese Frage überhaupt zu Ende denken konnten.

 

Dein Nervensystem agiert schon, bevor Du begonnen hast zu denken!

 

Damit wird hoffentlich klar: unser Nervensystem meint es gut mit uns und es ist für uns unabkömmlich, wenn wir als Mensch auf dieser Welt mehr als ein paar Minuten überleben wollen. Die Verknüpfungen, die in unserem Nervensystem verschaltet wurden, basieren in der Regel auf Erlebnissen in der (frühen) Kindheit und passen daher nicht immer zu unseren heutigen Herausforderungen. In den aller meisten Fällen sind die Strategien, die aus diesen Erfahrungen resultieren, mehr als kontraproduktiv – so wie im Falle der Prokrastination. Mit Hypnose ist es möglich, diese Verknüpfungen zu lösen und neue, positive Verbindungen zu schaffen. Unser Gehirn ist lebenslang dazu in der Lage, neue neuronale Verknüpfungen zu bilden – es ist niemals zu spät!

 

Was kann ich tun, wenn die Prokrastination mich im Griff hat?

  • Prüfe Dein Selbstbild: Überlege, wer Du wirklich bist und wie Du Dich selbst siehst!
  • Nervensystem regulieren: Finde Wege, Dein Nervensystem zu beruhigen und zu stabilisieren – Hypnose, Selbsthypnose und neurogenes Zittern können dabei sehr gut helfen!
  • Traumasensible Begleitung: Suche Unterstützung von Fachleuten, die sich mit Trauma und Traumafolgen auskennen, um eine sensible und achtsame Begleitung zu gewährleisten!
  • Mehr Struktur erarbeiten: Gehe kleine Schritte, ohne Zwang und Druck, ohne ToDo-Liste und wertschätze Mini-Steps auf Deinem Weg
  • Erfolge feiern: Lerne, Deine Erfolge (seien sie noch so klein) zu würdigen und damit endlich Deine Selbstwirksamkeit zu erleben.
  • Gib dir Zeit: Dein Nervensystem braucht Zeit, um neue Verknüpfungen zu bilden. Entstanden sind sie in den ersten 15 Jahren Deines Lebens – was erwartest Du jetzt von Dir bei der Auflösung destruktiver Muster? Und nein, es dauert keine 15 Jahre, aber auch nicht nur 1,5 Tage!
  • Pausen und Ruhe: Gönne Dir regelmäßige Pausen und ausreichend Ruhe! Ein wichtiger Punkt, denn solang Dein Nervensystem nicht reguliert ist, kann es nichts Neues lernen!
  • Selbstbeobachtung: Beobachte dich liebevoll und bleibe neugierig und wohlwollend.
  • Innere Stimmen in Rente schicken: Lerne, die negativen inneren Stimmen anzunehmen und zu verstehen: sie haben ihre Job getan, jetzt ist Zeit, sie liebevoll in Rente zu schicken!

 

Veränderung ist möglich!

Prokrastination ist mehr als nur das Aufschieben von Aufgaben. Sie ist ein komplexes Symptom, das tief mit unseren emotionalen und psychologischen Erfahrungen verknüpft ist. Die Folgen von Prokrastination sind für viele Menschen auf unterschiedlichen Ebenen spürbar. Es kann zu Konflikten mit Familie/Partnern kommen und auch im Berufsleben kann es zu Problemen führen, wenn Termine und Deadlines nicht eingehalten werden. Damit ist Prokrastination in erster Linie ein hochgradig emotionales Problem, das zu sehr viel Stress, Verzweiflung und Überforderung führen kann.

Indem Du Dein Selbstbild immer wieder prüfst, Dein Nervensystem sanft und kontinuierlich regulieren lernst und Dir ggf. eine traumasensible Unterstützung suchst, kannst Du diesen Teufelskreis durchbrechen und ein erfüllteres, selbstbestimmtes Leben führen. Ohne Dinge aufzuschieben und ohne all die unangenehmen Gefühle, die Du unbewusst schon erwartest…

Wenn Du das Gefühl hast, es ist jetzt an der Zeit, die Prokrastination zu verabschieden und dabei meine Unterstützung möchtest, dann schreib mir sehr gern. Neulich hat eine Kundin nach der gemeinsamen Hypnose zum Thema Prokrastination gesagt:

„Prokrastination? Was ist das?“

Du siehst also, es ist möglich. Es ist möglich, ein Leben in Selbstbestimmtheit und Ausgeglichenheit zu leben, ohne innere Stimmen und Selbstvorwürfe. Es ist nie zu spät, etwas zu verändern und mit Hypnose geht es auf sanfte Art & Weise!

Alles Liebe
Corinna